Kultur

“Es ist kein Videospiel, es ist das echte Leben“¦“

“Am Boden“ am Staatstheater Kassel


(Quelle: N.Klinger)
Michaela Klamminger
(Quelle: N.Klinger)
GDN - “Am Boden“ (George Brant) feierte am Freitag Premiere im Theater im Fridericianum (Kassel).
Der hochaktuelle Monolog, die stimmige Inszenierung von Markus Dietz sowie eine beeindruckende schauspielerische Leistung von Michaela Klamminger zeigen, wie tief berührend politisches Theater sein kann.
Einst schritten selbstsichere Befehlshaber über Feldherrenhügel und beobachteten die Stoßrichtungen ihrer Regimenter. Heerführer koordinierten konzentriert das Vorrücken ihrer Panzerdivisionen und hielten den sich wandelnden Frontverlauf sorgfältig mit farbigen Stecknadeln auf Wandkarten fest. Soldaten schliefen bei unerträglicher Hitze auf dünnen Matratzen, während das staubbedeckte Gewehr griffbereit neben ihnen lag. Mit der Wucht eines einsetzenden Gewitters kamen Bomber über eine Stadt, Sirenen ertönten und Minuten später tauchten Flugabwehrraketen als Leuchtpunkte am Nachthimmel auf und Brandsätze ließen den Boden erzittern.
Laute Sirenen und Getöse waren nicht zu vernehmen, als der Somalier Maxamed Abdullahi im Februar 2012 seine Kamelherde hütete. Er wird lediglich ein leises Surren gehört haben. Kurz darauf rissen ihn die Geschosse einer US-Drohne in Stücke.
Auch die ostafghanische Provinz Kunar wird fortwährend von todbringenden Drohnen heimgesucht. Im September 2013 traf eine solche das Fahrzeug der Familie Rashid, tötete vierzehn Menschen, darunter Frauen und Kinder. Nur die damals vierjährige Aisha überlebte den Angriff, verlor ihre gesamte Familie sowie ihr Gesicht, das zerfetzt wurde.
Das Antlitz des Krieges hat sich in Verlauf der Menschheitsgeschichte gewandelt. Die marschierenden Soldaten, die klaren Schlachtordnungen und Feldherrnhügel scheinen der Vergangenheit anzugehören. Stattdessen versuchen Kriegsherren gegenwärtig mit geräuschlosen Drohnen, Menschen gezielt zu töten. Geblieben ist, was ein Krieg seit jeher mit sich gebracht hat: Angst, Schrecken, Leid, Unrecht und unschuldige Opfer.
Die Drohne scheint die ultimative Waffe im postulierten "sauberen" Krieg zu sein, da sie in der Lage ist, den Gegner auszuschalten, ohne Verluste bei den eigenen Soldaten zu riskieren. Aufgrund ihrer vermeintlichen Präzision wird sie häufig zur gezielten Tötung von Terroristen eingesetzt. Doch laut Schätzungen einer Studie der Universität Stanford machen hochrangige Extremisten lediglich zwei Prozent aller Opfer aus. Somit hält die behauptete "chirurgische Präzision", bei der zivile Opfer minimiert werden, der Realität nicht Stand.
Während der Präsidentschaft von Barack Obama wurden Tötungen per Drohne in den USA zur Staatsdoktrin. Jeden Dienstag unterschrieb der Friedensnobelpreisträger die sogenannte "Kill List". Doch selbst wenn sich unter den Toten Kämpfer und Sympathisanten von Terrororganisationen befanden - da die US-Regierung Drohnen-Einsätze als geheim einstuft, gibt es hierzu keine offiziellen Zahlen - wird der Anteil unschuldiger Zivilisten auf 20 bis 30 Prozent geschätzt.
Die Drohne hat sich von einem Aufklärungsinstrument zu einer äußerst gefährlichen Präzisionswaffe entwickelt. Mittlerweile bildet die US-amerikanische Luftwaffe mehr Telepiloten aus, die diese Maschine steuern, als Piloten für Kampfjets. Diese Entwicklung nimmt der Autor George Brant auf und stellt eine junge Kampfpilotin in das Zentrum seines Stückes “Am Boden“.
Die erfolgreiche und furchtlose F-16-Pilotin der US-Airforce wird ungewollt schwanger. Da es ihre Vorgesetzten für unangemessen halten, eine junge Mutter über Kriegsgebieten Bomben abwerfen zu lassen, ist ihr Traum vom Fliegen ausgeträumt. Das Militär versetzt sie in die Wüste nahe Las Vegas und lässt sie fortan eine Drohne in einem 8000 km entfernten Wüstenstaat steuern. Sie wirft künftig keine Bomben ab, sondern tötet, selbst ferngesteuert von “Leuten im Kopfhörer“, per Joystick und fährt nach einer 12-Stunden-Schicht nach Hause zu ihrer Familie. Doch die beiden Welten, in denen sie nun lebt, lassen sich nicht problemlos trennen, wie sie anfänglich geglaubt hat.
“Am Boden“ (Original: “Grounded“) ist ein Solostück des US-Amerikaners George Brant, das erschreckende Einblicke in die aktuelle militärpolitische Lage gewährt. Der Autor hat für das Stück sorgfältig recherchiert und verdeutlicht, dass Soldaten, die keiner unmittelbaren Gefahr für das eigene Leben ausgesetzt sind und mithilfe von Joysticks Drohnen in entfernten Regionen steuern, ebenso posttraumatische Belastungsstörungen erleiden, wie dies von ihren Kollegen im nicht-virtuellen Krieg seit langem bekannt ist.

“Am Boden“ erlangte nach der Uraufführung im Jahr 2013 schnell internationalen Erfolg und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, bevor es im Mai 2015 am Düsseldorfer Schauspielhaus erstmalig in deutscher Sprache aufgeführt wurde. Am Public Theatre in New York übernahm Oscargewinnerin Anne Hathaway die Rolle der Drohnenpilotin. In Kassel fiel die Wahl auf Michaela Klamminger. Wie sich bei der Premiere zeigte, handelt es sich hierbei um eine gute Entscheidung, denn die junge Schauspielerin kann in dem Monolog ihre Stärken vortrefflich ausspielen.
Michaela Klamminger
Quelle: N.Klinger
Zu Beginn hockt die namenlose Pilotin auf dem Boden einer kühlen, sterilen, klaustrophobisch wirkenden Bühnenkonstruktion, deren metallische Wände und Neonröhren an ein Gefängnis, einen Kellerraum oder an einen Container erinnern und beginnt zu erzählen. Geradezu entrückt beschreibt - und verklärt - sie das erhabene Gefühl, welches sie überkommt, sobald sie sich mit ihrem Kampfjet in die Lüfte schwingt. Sie ist überzeugt, das Richtige zu tun und sieht sich als Heldin im Kampf gegen das Böse.
Nach der Geburt ihrer Tochter sieht sie sich als Drohnenpilotin neuen Herausforderungen ausgesetzt, doch mit ihren Bemühungen ihre Handlungen zu strukturieren und sich an ihre neue Routine zu klammern, verschwimmt zugleich ihre Wahrnehmung sowie die Distanz zum weit entfernten Kriegsgebiet. Das innere Bild ihrer kleinen Tochter, Erinnerungen an den Heimweg durch die trostlose Wüste und die Bilder, die sie täglich auf ihrem Monitor verfolgt, vermischen sich. Die zunächst rustikale und selbstsichere Pilotin erleidet beim distanzierten Töten einen größeren psychischen Schaden als während ihrer Einsätze mit dem Kampfflugzeug.
Die zunehmende Zerrissenheit der tragischen Figur wird wiederholt durch Farben, die im dichten, messerscharfen Text auftauchen, versinnbildlicht. Die Pilotin lebt im Blau. Die Farbe des Himmels, dem sie in ihrem geliebten Kampfjet so nahe gekommen ist, spiegelt ihre Sehnsüchte und ihren Wunsch nach Freiheit, Unabhängigkeit und endloser Weite wider.
Im Verlaufe des Stückes drängen sich ungewollt zwei neue Farben in ihr Leben. Ihre Tochter liebt Rosa, die Farbe einer kitschigen Traumwelt, der Weiblichkeit, der naiven Verheißung und zudem das unheilvolle Grau, das sie tagtäglich auf ihrem Bildschirm sieht und das nach und nach auch in ihr privates Umfeld eindringt. Doch sie kann die Welt weder durch die “rosarote Brille“ sehen, noch möchte sie das Leben einer langweiligen, farblosen “grauen Maus“ führen. Ein ausgewogenes Mischungsverhältnis der Farbtöne scheint ihr nicht zu gelingen.
Schon in vergangenen Produktionen am Staatstheater Kassel konnte Michaela Klamminger unter Beweis stellen, dass eine ihrer Stärken die Stimme ist, die sie detailreich, vielschichtig und präzise einzusetzen weiß. Somit sind die fesselndsten Momente im Verlaufe des Abends, die Augenblicke, in denen die Schauspielerin zwischen einer rustikalen, derben Umgangssprache mit kurzen, messerscharfen Sätzen, die sie geradewegs herausschleudert und zarten, fast lyrischen Tönen changiert, souverän die Erzählebenen verlagert und vom Schreien zum Flüsterton wechselt.
Mit äußerst wenigen Requisiten verlässt sich die Produktion weitestgehend auf die Kraft des Erzählens und damit der Stimme - und das funktioniert gut. Es gelingt Michaela Klamminger die extremen Gefühle, die Entmenschlichung, das Scheitern ihrer Figur - dies herauszuarbeiten, ist gewiss auch eine Stärke des Regisseurs Markus Dietz - für den Zuschauer spürbar zu machen.
Auf einer breiten Leinwand werden sowohl die Geschehnisse im fernen Kriegsgebiet als auch die inneren Vorstellungen der Protagonistin sichtbar gemacht. Die Zuschauer haben somit die gleichen Bilder wie die Hauptfigur, die mit ihrem Joystick über Leben und Tod entscheidet (und in diesen Momenten gar die Perspektive des Publikums einnimmt, indem sie sich in den Zuschauerraum setzt), vor Augen. Autos werden durch den aufwirbelnden Wüstensand mit der Kamera verfolgt, Konvois aufmerksam bewacht und potenzielle Ziele im Fadenkreuz herangezoomt. Doch die Realität verschwimmt wiederholt. Was erkenne ich? Was sehe ich nicht? Habe ich die Realität vor Augen oder ergänzt mein Gehirn instinktiv die fehlenden Elemente?
Die Welt der Pilotin zerfällt, weil es ihr nicht gelingt, den täglichen Dienst mit ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau in Einklang zu bringen. Symbolisiert wird dies durch den Pilotenanzug (Kostüm: Michael Lindner), den die Frau auch zu Hause kaum mehr abstreift. Für die Zuschauer ist die Zerrissenheit der Figur sichtbar, wenn sie über weite Strecken des Stückes den Dienst-Overall bis zur Körpermitte trägt - halb im Kriegseinsatz und halb zivil.
Quelle: N.Klinger
Eindrücklich verkörpert Michaela Klamminger das Scheitern ihrer Figur. Eine Stunde Fahrtzeit durch die staubige Wüste Nevadas bleibt ihr nach Dienstschluss, um den gewünschten Rollenwechsel vorzunehmen. “Die Wüste ist nicht lang genug. Ich habe immer noch Leichen im Kopf.“ Mir rührend naiven Ideen versucht ihr Ehemann Hilfestellung zu leisten. Doch in einer beeindruckenden apokalyptisch-rauschhaften Videosequenz (ebenfalls Michael Lindner) wird deutlich, dass dies nicht gelingt. Neil Diamonds schmalzige Stimme, die von Funksprüchen und Befehlen der Stimmen im Kopfhörer überlagert wird, leiert und ist nur noch eine verblassende Erinnerung an unbeschwerte Tage. Sie vermag sich nicht gegen das auditive Kaleidoskop im Kopf durchzusetzen (Musik: Ole Schmidt).
Bernd Hüppauf, deutscher Kultur- und Literaturwissenschaftler, diagnostiziert: “Krieg hat sich über Jahrtausende gewandelt und ist in der Gegenwart erneut dabei, sich fundamental zu ändern - vom Schwert zur Drohne."
Der Drohnenkrieg findet in den Medien bemerkenswert wenig Beachtung und auch umfangreiche Proteste, wie man sie gegen Kriege der jüngeren Vergangenheit kennt, bleiben aus. Womöglich weil das Töten chirurgisch und präzise zu erfolgen scheint, doch die Realität hält nicht was Politik, Militär und Rüstungsindustrie versprechen.
Die Piloten, auf die das Stück den Fokus richtet, sitzen in sicherer Entfernung vor ihrem Bildschirm. Im Unterschied zu ihren Kollegen in Kampfjets sind sie keiner unmittelbaren Gefahr ausgesetzt, doch bringt ihre Aufgabe Besonderheiten mit sich, die sich als verhängnisvoll erweisen können. Während Bomberpiloten, nachdem sie ihre todbringende Fracht abgeworfen haben, abdrehen, kann der Drohnenpilot die verheerenden Folgen seiner Tat beobachten. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass Burn-out-Syndrome und Traumata unter ihnen häufig vorkommen.
Der US-Drohnenpilot Brandon Bryant hat vor einigen Jahren seinen Dienst quittiert, da ihn, ähnlich wie der Protagonistin in dem Theaterstück, die Bilder auf dem Monitor, auf denen er die Opfer seiner Angriffe sehen konnte, nicht mehr losließen. Bryant erinnert sich an einen seiner Einsätze: “Sein rechtes Bein war verletzt. Ich sah, wie er wegen einer offenen Beinarterie verblutete." Das habe ihn schockiert. “Es war sehr pixelig und es sah nicht real aus. Aber es war real."
Zum Abschied aus der US-Armee erhielt Brandon Bryant ein Zertifikat: 1.626 getötete Feinde. Ein Grund stolz zu sein? An die Öffentlichkeit ist Bryant wiederholt gegangen, um auf die psychischen Probleme seiner einstigen Kollegen aufmerksam zu machen. “Allen Drohnenpiloten geht es an die Nieren", sagt er. “Es ist kein Videospiel, es ist das echte Leben“¦"
Michaela Klamminger
Quelle: Michaela Klamminger
Nach eineinhalb Stunden, die wie im Fluge vergingen und während der das Publikum mit einem fesselnden Monolog über die bizarren Auswüchse virtueller Kampftechniken und erschreckenden sowie verstörenden Gedankengebäuden konfrontiert wurde, wirken die Zuschauer tief berührt vom Erlebten und beeindruckt von der schauspielerischen Leistung Michaela Klammingers, die mit tosendem Applaus gefeiert wird. Hochaktuell, politisch, ausdrucksstark, tiefgründig, vielschichtig und berührend - so soll Theater sein.
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